INTERVIEW
Er führt das Münchner Traditionshaus Zechbauer für Zigarren und Tabakwaren sowie die Traditionsmarke Mayser Hüte. Uns verrät er, wie er über Umwege ins Unternehmen kam, welche Rolle ein Hut heute noch spielt und warum er einen Kinofilm über die Kraft der Musik gemacht hat.
Wir sitzen hier im 3. Stock des traditionsreichen Zechbauer-Hauses in der Münchner Residenzstraße: Vor sieben Generationen gründete Max Zechbauer 1830 das Unternehmen. Im Jahre 1886 erfolgte die Ernennung zum „Königlich Bayerischen Hoflieferanten“ und damit der Zugang zu Europas Königshäusern. Lieber Michael, was bedeutet Tradition und deren Erhalt für Dich?
In unserer Familie ging es damals sehr altmodisch zu. Mein Großvater war der klassische Patriarch, mein Vater hingegen entspannt. Der wäre am liebsten Architekt geworden, statt unter seinem Vater in den Firmen aktiv zu sein. Doch nach einer überstandenen Polio-Infektion und den daraus resultierenden körperlichen Einschränkungen stürzte er sich komplett in das Familienunternehmen. Ich selbst habe zwei ältere Schwestern, es hätten aber locker auch 15 sein können. Denn man wartete beharrlich auf den männlichen Nachfolger. Bereits zu meiner Geburt wurde ein Vertrag geschlossen: Zu meinem 26. Geburtstag sollten die Firmen an mich übertragen werden.
Du wurdest quasi zur Unternehmensnachfolge verpflichtet?
Mit Anfang 20 ist man noch sehr naiv, Tradition und Verantwortung liegen weit entfernt. Direkt nach Abitur und Bundeswehr, durchlief ich die Ausbildung zum Industriekaufmann und lernte die Abläufe im Unternehmen von der Pike auf. Doch mit meinem Drang zu Kreativität musste ich erkennen: Hier gehe ich zugrunde. Nach weiteren sechs Monaten fasste ich den Mut und informierte meinen Vater. Nach kurzer Schockstarre fragte er, was ich stattdessen machen wolle: Malerei - die wohl schlimmste Antwort, die ich ihm hätte geben können. Fast zehn Jahre bin ich dann der Malerei nachgegangen, bis ich merkte, dass die zunehmende Zusammenarbeit mit Galerien im Widerspruch zu freier, künstlerischer Arbeit stand. Nämlich dann, wenn es nur noch darum geht zu einem bestimmten Zeitpunkt so und so viele Bilder in gleicher, wiedererkennbarer Qualität zu liefern. Durch Zufall rutschte ich dann in ein Weltrettungsprojekt: „Electrofarming“. Ich finanzierte ein kleines Team, das ein Verfahren zur CO2-neutralen Herstellung von Wasserstoff aus Biomasse entwickelt hatte. Trotz einer laufenden Pilotanlage in Baltimor USA stießen wir damals auf so großen Wiederstand seitens Großindustrie und Politik, dass das Projekt nach fünf Jahren Arbeit und erheblichen Investitionen scheiterte. Doch was ich in dieser Zeit gelernt habe, hat mich besser auf meine Rolle bei Zechbauer vorbereitet, als jede Universität…
Das glaube ich gern. Wie ging es weiter?
Nach der Electrofarming-Phase bat mich mein Vater um Unterstützung in der Firma. Ich konnte mithelfen und hatte trotzdem noch Zeit für Themen, die mir nahe lagen. Zudem war ich nun Mitte 30 und hatte eine andere Sicht auf viele Dinge. Was mir mit Anfang 20 noch wie ein unerklimmbarer Berg vorkam, schien nun mit klarem Menschenverstand lösbar - und Begriffe wie Tradition und Verantwortung hatten für mich an Bedeutung gewonnen. Nach dem Tod meines Vaters 2009 hat sich das Pensum zwar erhöht, dennoch konnte ich mir eine gesunde Mischung beibehalten: Ich wirke bei entscheidenden Fragen mit, bin aber in vielen Bereichen nicht geschäftsführend tätig.
Für die meisten ist der Name Zechbauer gleichbedeutend mit Zigarren. Aber auch die Traditionsmarke „Mayser Hüte“ gehört zur Unternehmensgruppe…
Mayser Hüte wurden 1800 in Ulm gegründet. Mein Urgroßvater hat die Firma 1906 gekauft und großgemacht. Mitte des 20. Jahrhunderts war fast jeder zweite Hut in Europa von uns. Wir waren quasi das „Nike“ des Zeitalters. Eine Kopfbedeckung war damals fester Bestandteil der Bekleidung eines Mannes. Heute gilt sie lediglich als Accessoire.
Warum hat der Hut an gesellschaftlicher Bedeutung verloren?
Da kommt vieles zusammen. Der Verlust als Statussymbol, aber auch Schutz- und Wärmefunktion wurden immer unwichtiger, stattdessen Frisuren. Früher gab es überall Hutablagen. Was machst du denn heute mit einem Hut? Wir leben auch nicht mehr in einer Zeit, in der man mit 38 Kisten durch die Gegend reist.
Was war Dein erster Berührungspunkt mit der Firma? Zigarren oder Hüte?
Tatsächlich gilt eine meiner ersten Kindheitserinnerungen der Hutfabrik. Mein Großvater hatte Asthma und sich daher ein Domizil im Luftkurort Davos angeschafft. Jedes Jahr Weihnachten und Ostern fuhren wir dorthin - und in Lindenberg, auf der Strecke von München in die Schweiz, lag eben eine der Hutfabriken. Für einen 5-Jährigen war diese Fabrik mit den vielen Maschinen schon beeindruckend.
Wie wächst man mit dem Namen Zechbauer auf?
Meine Eltern haben uns wie ganz normale Kinder großgezogen. Die Bedeutung des Namens war für mich nicht greifbar. Auch nicht, dass er in München Türen öffnet oder Interesse weckt. Ich habe als Kind nie hinterfragt, warum meine Freunde in einer 3-Zimmer-Wohnung wohnten und wir im großen Haus, es schien mir auch nicht wichtig. Dann kam ich ins Klosterinternat Ettal - ein Kulturschock. Ich war zehn Jahre alt, doch gut behütet und eher auf dem emotionalen Stand eines 6-Jährigen. Am ersten Schultag wurde ich abgeliefert: „Wir sehen uns in 6 Wochen wieder“. Sicher eineinhalb Jahre lang habe ich jeden Tag geheult. Hier gab es keine Privatsphäre. Schlafsäle mit 30 Betten, ein Waschsaal mit einer Reihe Waschbecken und kaltem Wasser. Nirgendwo konnte man sich zurückziehen. Meine Mutter hat wohl noch mehr geweint, als ich - aber der Großvater bestand auf die seines Erachtens großartige Ausbildung. Erst mit 14 Jahren, als ich meinen eigenen Kopf entwickelte, und mein Großvater zwischenzeitlich verstorben war, durfte ich zurück. Doch was diese Zeit in mir bewirkt hat, hätte ich meinen Kindern nie zugemutet. Ich ging als unreifes Kleinkind hin und kam als fertiger Mensch zurück. Die Pubertätsphase, in der man sich mit seinen Eltern die Köpfe einschlägt und sich richtig kennen lernt - die fehlte komplett! Mit meinen Jungs ist das heute ganz anders. Wir sind beste Kumpels, unternehmen viel zusammen. Sie wohnen sogar hier im 5. Stock in einer kleinen Studentenbude!
Zechbauer waren die ersten Importeure von Havannas in Deutschland?
Die Zechbauers waren Bergarbeiter aus Südtirol und kamen Ende des 18. Jahrhunderts nach München, um hier ein besseres Leben anzufangen. Sie importierten Tabakwaren - mit Erfolg. Die größte Rampe war der Hoflieferanten-Titel - eine Lizenz zum Gelddrucken.
Wie hat sich der Zigarrenkonsum entwickelt?
Der Absatzmarkt Zigarren ist nicht eingebrochen – im Gegenteil: sogar noch ein wenig nach oben gegangen. Denn bei Zigarren hat man eine ganz andere Form von Genuss. Zigaretten sind ein bescheuertes Laster, Zigarren wie ein guter Cocktail oder Wein. Man inhaliert sie nicht und kommt zur Ruhe. Die Zigarre nimmst du in die Hand, drückst ein wenig herum und zündest sie stilecht mit Zedernholz an. Das ist Stimmung und Genuss - kein Suchtverhalten.
Wenn man mit Zigarren beginnen möchte, welche Marken empfiehlst Du?
Ich würde gar nicht auf Marken gehen. Unsere Topmarke „Royales“ etwa ist ein Produkt, das mit allen Marken dieser Welt mithalten kann. Der Tabak kommt aus Nicaragua und Peru, gedreht wird die Zigarre in Costa Rica und die Tabakblätter sind mindestens 7 Jahre gereift – ein absolutes Highend-Produkt. Wenn jemand mit den Zigarren beginnen möchte, dann empfehle ich milden Tabak zum Beispiel aus der Dominikanischen Republik. Auch das Format spielt eine Rolle. Nehmen Sie nicht die kurzen Dicken, sondern eher die Langen. Die sind vom chemischen Prozess her einfach milder. Alles andere ist Geschmackssache!
Was muss ich beim Preis beachten?
Von der Qualität her, könnten wir unsere „Royales“ auch für 30 € pro Stück verkaufen, doch wir bleiben bei unserer äußerst fairen Preispolitik von 8 bis 9 €. Darauf sind wir stolz. Mein Vater war Maître de Bordeaux – seinerzeit der einzige außerhalb Frankreichs. Nach ihm kostete damals eine Flasche bester Qualitätswein nicht mehr als 12 € in der Herstellung. Und was kosten sie auf dem Markt? Warum der eine 30 €, der andere 80 € und der dritte 150 €?
Auch Kaviar Imperial verkauft Ihr im Ladengeschäft. Wie passt der zu den Zigarren?
Sehr gut sogar. Denn wir fokussieren uns im weitesten Sinne auf Genusswaren – da zählen auch Rum-Sorten und Whiskey dazu. Ich bin selbst Kaviar-Fan und habe mich oft über die Preise im Hinblick auf Qualität geärgert. In Berlin habe ich einen Importeur kennen gelernt. Heute bieten wir Kaviar in Wahnsinnsqualität zu einem guten Preis.
Ihr betreibt eine Zigarren-Lounge im Münchener Hotel Vier Jahreszeiten…
Wenn man im Zigarrenbereich einen Namen haben möchte, ist so eine Lounge essentiell. Dass wir aber letztes Jahr zur besten Tabaklounge weltweit gewählt wurden, ehrt uns sehr. Dort können wir der Community auch etwas bieten. Und gerade im Zeitalter des Rauchverbots signalisiert das der Raucherwelt Wertigkeit. In meinen Augen ein Ritterschlag.
Wie groß ist der Zigarrenmarkt heute?
Fakt ist: Dieser Laden hier ist der bestlaufendste in Deutschland. Doch zum Großteil verdient hier der Staat, nicht wir. Gewinnbringenden Umsatz machen wir mit den Accessoires - dem Feuerzeug, Humidor und anderen Zusatzangeboten. Auch wenn die Zigarren nur ein kleines Mosaiksteinchen im Gesamtunternehmen sind, so bleiben sie doch heilig für uns. Wir befinden uns hier in europäischer 1-A-Lage und Zigarren waren schließlich der Anfang der Familiengeschichte in München. Das Hutgeschäft ist seit den 70er-Jahren eher schwierig. Daher hat mein Vater seinerzeit die Technikbereiche angestoßen. 95 Prozent unseres Gesamtumsatzes machen wir mit technischen Bereichen. Das Rückgrat der Familie sind die Immobilien. Die helfen auch in schwächeren Phasen die Löhne für rund 1.000 Beschäftigte zu bezahlen.
Wie sieht Euer Engagement im Automotive-Bereich aus?
In den 60er- und 70er-Jahren ging der Rückgang im Hutgeschäft los - und mein Vater sagte: Wir können jetzt mit der Firma Mayser pleitegehen oder etwas Neues versuchen. Hüte werden heute wie damals über beheizte Formen gezogen. Auch das Färben der Stumpen war Teil unseres Produktionsprozesses. Wir hatten daher sowohl Erfahrung mit thermischer Verformung, als auch das Know-How unserer Textilchemiker vor Ort und überlegten, was wir damit anfangen konnten. Unser erstes Produkt war ein Schweißband für die Automobilindustrie. Über die Jahre haben wir immer weitere Lösungen entwickelt, oftmals im Automotive-Bereich – heute ist die Sicherheitstechnik mit Schaltleisten und -matten unsere stärkste Sparte. Das Geschäftsfeld ist vielseitig: Einklemmschutz von S-Bahntüren, Absicherung von Waschanlagen für Flugzeuge, Absicherung führerloser Fahrzeuge, Kabinenausstattung, Medizinschäume, Formteile und auch Arbeitssicherheitstechnik für den Robotermarkt sind sehr interessant.
Vom Hutproduzenten zum Technikunternehmen: Wirtschaftlich spielt die Hutproduktion also kaum noch eine Rolle, ist es Leidenschaft, diese Marke weiterzuführen?
Die Hutbranche an sich ist recht überschaubar. Als mein Vater 2009 verstarb, hatten unsere Handelspartner unglaublich Angst, ob wir auch weiter Hüte machen würden. Um zu signalisieren, dass es uns ernst ist, brachten wir damals erstmalig eine eigene Linie unter meinem Namen heraus. Und dahinter stehe ich auch wirklich. Meine Modistinnen bereiten die Kollektionen vor und ich treffe dann Entscheidungen bezüglich Auswahl und Detailgestaltung. Meine Kollektion ist unisex, unter der Marke Mayser führen wir Damen- und Herren-Hüte. Wobei der Schwerpunkt auf den Herren liegt: Ein Drittel weniger Aufwand und deutlich mehr Umsatz!
Zigarren und Hüte sind Lifestyle-Produkte. Wie sieht Dein persönlicher Lifestyle aus?
Lifestyle ist für mich der Faktor Zeit und Freiheit. Mein größter Luxus besteht darin, Zeit mit Familie und Freunden zu verbringen. Seit einigen Jahren organisiere ich das „kulinarische Glückspiel“ mit meinen Freunden. Angefangen hat alles als kleine Pokerrunde, heute sitzen wir regelmäßig von 20 Uhr abends bis mindestens 4 Uhr morgens zusammen und quatschen, spielen, Karten und essen. Denn jede Stunde wird ein neues Gericht serviert. Die kulinarische Folge entwickle ich mit großer Leidenschaft selbst. Ich glaube mittlerweile kommen die Leute mehr wegen der Kulinarik, als dem Kartenspiel. Aber hier kann man sich vollständig fallen lassen. Wenn ich unterwegs bin, darf es heutzutage auch mal ein schönes Hotel sein, am liebsten natürlich mit meiner Familie, und: ich liebe es, Bälle zu schlagen. Bewusst sage ich nicht Golf, denn das ist in Deutschland mit Etikette verbunden. Ich mag einfach das Spiel!
Gibt es einen Ort, wo Du besonders gut entspannen kannst?
Entspannung ist Kopfsache und nicht unbedingt ortsbezogen. Da reicht es schon, wenn man mal nicht alle drei Minuten aufs Handy schaut. Aber es gibt auch einen Ort, an dem ich immer runterkomme: Mein Großvater hatte ein Jagdrevier in Unterammergau: hohe Bergketten, sehr verwegenes Terrain. Hier haben wir noch ein Häuschen – ein Traumrückzug, keine Stunde von München entfernt.
Hast du Restaurant-Tipps für München?
Ich bin ein echter Verfechter des Trader’s Vic. Tolle Umgebung, saulecker! Auch das Matsuhisa im Mandarin Oriental kann ich sehr empfehlen sowie die Fusion-Kitchen im Designhotel „Roomers“ in der Landsberger Straße. Kulinarisch Top!
Du bist seit über zehn Jahren mit der Filmproduzentin Alice Brauner verheiratet, der Tochter des legendären Arthur Brauner. Bist Du noch öfters in Berlin?
Glücklicherweise verlagert sich unser Familienleben langsam Richtung München. Es war klar, dass die Kinder bis zum Abitur in Berlin bleiben. Jetzt studieren sie hier und das freut mich sehr. Ich finde Berlin spannend, aber auf Dauer wohlfühlen kann ich mich in der Stadt nicht. Alice ist Berlinerin, betreibt von dort aus das Filmgeschäft und die Filmstudios, war aber vor allem durch ihre Eltern an die Stadt gebunden. Seit beide nun nicht mehr leben, verlagert sich unser Leben mehr und mehr nach München.
Wie geht es bei Zechbauer in der nächsten Generation weiter? Gibt es schon einen Vertrag?
MZ (lacht): Nein, da bin ich konsequent! Und ich könnte meinen Schwestern auch nicht in die Augen sehen, wäre der Vertrag an meinem 26. Geburtstag in die Tat umgesetzt worden. Mein Vater hat gedrittelt und das ist gut so. Auch meine Jungs sollen machen, was sie wollen - solange sie es mit Begeisterung tun. Beide sind hochintelligent, brillante Köpfe! Das haben sie eindeutig Alice zu verdanken. Ich bin mehr die ruhige Seite, die für die Erdung zuständig ist. Trotz aller Disziplin lassen es die beiden auch mal richtig krachen. Das finde ich beruhigend!
Und wo siehst Du Dich in zehn Jahren?
Ich könnte mich zurücklehnen und an meinem Handicap arbeiten. In jedem Fall freue ich mich, wenn die Jungs vielleicht dabei sind und mich in der Firma unterstützen. Über Alice bin ich nun auch ins Filmgeschäft reingerutscht: Kreativ war ich immer schon, habe Musik komponiert und Drehbücher gelesen. Hin und wieder fehlte mal bei einem Filmprojekt die Schlussfinanzierung - und dann bin ich eben eingesprungen.
Was ist Euer neuestes Werk?
Der Film heißt „Crescendo“ und läuft seit einem halben Jahr auf diversen Filmfestivals, wo er bereits zahlreiche Auszeichnungen gewonnen hat. Es geht um ein Jugendorchester aus Palästinensern und Israelis, die im Rahmen von Friedensverhandlungen ein Konzert spielen. Der Dirigent soll die verfeindeten Gruppen zusammenführen. Der Film hat, nicht zuletzt mit Peter Simonischek in der Rolle des Dirigenten, eine erstklassige Besetzung, ein Großteil der Darsteller sind echte Musiker bestehend aus Israelis und Palästinensern. Und tatsächlich hat die Entwicklung im Film auch real beim Dreh stattgefunden. Kinostart war der 16. Januar.
Du schneidest hier ein Thema an: Über Antisemitismus liest man derzeit viel. Deine Frau ist Jüdin. Wie hast Du die Entwicklung in den letzten 10 Jahren erlebt?
Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit möchte ich nicht trennen. Da steckt das gleiche gefährliche Gedankengut dahinter. Weltweit gibt es noch 16 Millionen Juden. Das ist eine lächerlich kleine Minderheit, im Vergleich zu den Milliarden Anhängern anderer Religionen. Um als kleine Gruppe zu überleben, legten die Juden immer schon sehr viel Wert auf Bildung und landen deshalb häufig in Schlüsselpositionen. Bevor ich meine Frau kennen gelernt habe, war das Thema für mich im Hintergrund. Doch man wird schnell sensibilisiert. Latenten Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit gibt es nicht erst seit einem Jahr. Doch jetzt wird er sichtbar – etwa durch eine wählbare Partei, die unverfroren Parolen raushaut. Ich gehöre zur ersten Generation, die keinen Krieg oder extreme politische Situationen erleben musste, fühlte mich nie schuldig, aber verantwortlich – und zwar darauf zu achten, dass es nicht mehr so kommt. Wir haben eine der besten Verfassungen weltweit und genießen viele Freiheiten. Wir müssen jetzt reagieren und können nicht mehr nur zuschauen. Familie und Freunde aus Berlin tragen heute Sorge, wenn sie mit Davidstern aus dem Haus gehen. Politiker werden erschossen, weil sie sich für Asylsuchende einsetzen. Soweit sind wir. Wenn wir uns jetzt zurückziehen, machen wir die gleichen Fehler, wie vor 85 Jahren. Und was den Großteil der Asylsuchenden anbelangt: Wenn sich Väter aus Krisenregionen dazu entscheiden, ihr gesamtes Geld zu investieren, um mit ihrer Familie eine lebensgefährliche Flucht anzutreten, dann müssen wir das ernst nehmen. Um nicht zu sagen, wir haben die verdammte Pflicht! Wir können integrieren! Wenn sich Europa einig wäre, erst recht. Denn sind wir mal ehrlich: Das Problem liegt an der Globalisierung. Seit Jahrzehnten beuten wir Schwellenländer aus, um unseren Wohlstand zu sichern. Da müssen wir uns nicht wundern, wenn uns diese Menschen die Bude einrennen.
Treffende Worte, lieber Michael! Vielen Dank für dieses interessante Gespräch und weiterhin viel Erfolg!
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